Standorte. Jahrbuch Ruhrgebiet 2001 / 2002

Periodikum "Standorte. Jahrbuch Ruhrgebiet 2001 / 2002"

Aufgabe: Beitrag über aktuelle Kunstprojekte auf der Kokerei Zollverein
Auftraggeber: Kommunalverband Ruhrgebiet (heute: Regionalverband Ruhr), Essen
Gestaltung: Studio HÜGEMO, E+G Morgenstern-Hübner, Essen 

 

 

Textauszug:

Wer auf Zollverein baden geht, taucht in die Kunst ein

Ehemalige Kokerei wird zum künstlerischen Experimentierfeld

 

International renommierte Künstler erobern das Industriedenkmal Kokerei Zollverein im Essener Norden: Mit dem "Weltzentrum Kabakov" im ehemaligen Salzlager und dem Projekt "Kokerei Zollverein - Zeitgenössische Kunst und Kritik" in der Mischanlage entwickelt sich die einst modernste und leistungsstärkste Kokerei Europas zu einem Ort für Gegenwartskunst. 
Die Frage nach ihrer kulturellen Identität beschäftigt die Ruhrgebietsstädte nicht erst seit den 1970er Jahren, seitdem es mit der Schwerindustrie, den Kohlebergwerken und Eisenhütten allmählich zu Ende geht.
Rapide ist das Ruhrgebiet, eine vor 150 Jahren noch ländliche Gegend, imzuge der Industrialisierung zu einem dicht besiedelten Ballungsraum expandiert; mit heute rund 5,4 Millionen Einwohnern zählt es zu den bevölkerungsreichsten Ballungsgebieten Europas. Doch im Unterschied zu anderen Großräumen oder Städten wie in der Nachbarschaft Köln und Düsseldorf gibt es hier kein Zentrum ebensowenig wie eine historisch gewachsene kulturelle Infrastruktur, die ein Anker für Identität sein könnten. Im Ruhrgebiet sind die heute unter Denkmalschutz gestellten Industriekomplexe mit ihren Fördertürmen und Hochöfen die "Kathedralen der Arbeit" und die vergangenen Produktionsstätten die "Ruinenlandschaft". 
Diese in ihrer Geschichte besondere Region bedarf anderer Konzepte, um sich der eigenen Identität zu vergewissern, als jene traditionell gewachsenen Ansiedlungen. Ein solches Konzept realisiert die Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur seit diesem Sommer auf der Kokerei Zollverein im strukturschwachen Essener Norden, dem Stadtteil Katernberg. Die 1995 gegründete Stiftung des Landes NRW mit Sitz auf der Kokerei Hansa in Dortmund erhält und sichert bedeutende Zeugen des Industriezeitalters, macht sie für die Öffentlichkeit zugänglich und führt sie einer neuen Nutzung zu. Seit 1998 ist sie neben inzwischen zwölf weiteren Objekten Eigentümerin der 1993 stillgelegten Kokerei Zollverein. Diese soll jetzt zu einem Ort für Gegenwartskunst ausgebaut werden, basierend auf zwei Säulen: 1. dem "Weltzentrum Kabakov" auf der "weißen Seite", bestehend aus der begehbaren Rauminstallation "The Palace of Projects" sowie einem Archiv sämtlicher Zeichnungen und Druckgrafiken des vielfach ausgezeichneten russisch-amerikanischen Künstlers Ilya Kabakov, und 2. dem temporären Projekt "Kokerei Zollverein - Zeitgenössische Kunst und Kritik" in der ehemaligen Mischanlage auf der "schwarzen Seite". 

Raum für neue Ideen und Kommunikation: Das Projekt Zeitgenössische Kunst und Kritik 
Mit den Worten "Kunst und Kultur sind der eigentliche Motor für die Entwicklung des Zollverein-Geländes und integraler Bestandteil", eröffnete Dr. Wolfgang Roters, Vorsitzender der Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur, am 26. Mai die "Badesaison" im neuen "Werksschwimmbad" vor der Mischanlage und stellte das neue Projekt "Kokerei Zollverein - Zeitgenössische Kunst und Kritik" der Öffentlichkeit vor. "Jenseits von Eventkultur und flankierendem Beiwerk", so der Wunsch der Landesstiftung, sollen sich fortan "langfristige, intelligente Kreativstrukturen" etablieren, die sich der Geschichte des Industrieensembles statt mit Romantisierung, wie Roters in Anspielung auf die vergangene Publikumsausstellung "Sonne, Mond und Sterne" formulierte, mit aktuellen künstlerischen Positionen nähern. Gerade die zeitgenössische Kunst könne den Umgestaltungsprozeß in Gang setzen und der sperrigen Anlage jenseits des musealen Kunstbetriebs mit dem "verwegensten, frechsten, spannendsten Versuch" der Auseinandersetzung begegnen. Schnelle Erfolge indes seien nicht das Ziel, vielmehr komme es jetzt darauf an, diesem Umgestaltunsprozeß den richtigen Weg zu weisen und kontinuierlich Strukturen zu geben. Drei Millionen Mark hat das Land in diesem Jahr als Anschubfinanzierung beigesteuert - ein Bruchteil dessen, was "Sonne, Mond und Sterne" verschlang. Doch ob sich der "Versuch" bewährt, muß sich erst zeigen. In Zukunft sollen für das Projekt auch "potente Finanzpartner" gewonnen werden. Anders als jene zahlreichen Initiativen, die mithilfe importierter Persönlichkeiten überregional ausstrahlende Kunst- und Kulturfestivals initiieren, die Highlight an Highlight anschließen, setzt das Projekt "Kokerei Zollverein - Zeitgenössische Kunst und Kritik" bewußt an den hier vorgefundenen Bedingungen und Möglichkeiten an. Vor Ort die Wahrnehmung für die eigene Geschichte schärfen, mit zeitgenössischer Kunst neue Wege im Umgang mit gesellschaftsrelevanten Fragen gehen und sich kritisch mit der aktuellen Wirklichkeit auseinandersetzen, sind einige der Aufgaben, die das fünfköpfige Team in den nächsten fünf Jahren beschäftigen. Wo einst täglich 10.000 Tonnen Kohle zu 8.600 Tonnen Koks verbrannt wurden, sollen zukünftig künstlerische Ideen einheizen. "Wir wollen die sozialgeschichtliche Besonderheit und architektonische Unverwechselbarkeit des Geländes aufnehmen und mit zeitgenössischer Kunst kurzschließen, so daß hier eine neue Produktionsstätte von Ideen und Kommunikationen ensteht, die in die Gesellschaft zurückwirken soll", formuliert Florian Waldvogel die Intention in dem zur Eröffnung publizierten Statement-Reader. Waldvogel ist Kurator und künstlerischer Leiter des neuen Teams; er verantwortet das ambitionierte Ausstellungsprogramm, das sich in diesem Sommer über vier Etappen erstreckt und das Haus bis zum Herbst mit immer neuen Arbeiten füllt. Wenn am 8. September schließlich die Ausstellung "Angst", das dritte Segment aus dem diesjährigen Zyklus "Arbeit Essen Angst", seine Eröffnung feiert, hat sich die Kunst den verschiedenen Ebenen der Mischanlage bemächtigt, und Projekte von insgesamt 25 internationalen Künstlerinnen und Künstlern präsentieren sich dem Publikum.
Der Startschuß am 26. Mai fiel zunächst für das am ehemaligen Brennofen neben der 9. Batterie installierte Werksschwimmbad der beiden Frankfurter Künstler Dirk Paschke und Daniel Milohnic. Seither lädt das aus zwei Überseecontainern zusammengeschweißte, 130 Kubikmeter Wasser fassende Bassin zum kostenlosen Schwimmen ein und bildet, eingefaßt in eine aus unbehandeltem Holz gefertigte Balustrade, ein inselhaftes Refugium vor der umliegend rostroten Kulisse aus alten Bandbrücken, Ofenbatterien und Rohrleitungen. Mit voll funktionsfähiger Filteranlage, mit Bademeister und Badeordnung erfüllt das Kunstwerk sogar die geltenden Bestimmungen. Zu besichtigen ist seither auch die "Kochwerkstatt" von Sebastian Stöhrer. Sein "Material" sind Lebensmittel, die er während des Kochens, Zubereitens und Verzehrens verarbeitet. Den Prozess dieser Transformation bezeichnet der Bildhauer als "soziale Skulptur". Und in die zieht er den Ausstellungsbesucher explizit mit ein: Er verköstigt ihn und führt ihm vor, wie man eine Spätzle-Bude baut, einen Schwertfisch am Spieß grillt, Fische räuchert oder Bier braut. Auch die österreichischen Schwestern Irene und Christiane Hohenbüchler integrieren die Besucher, allen voran die Kleinen. Als "Artists in Residence" realisieren sie mit Kindern vor Ort die Kunstaktion "Hüttendorf" - ein in das diesjährige "Ferienspatzprogramm" aufgenommenes Angebot. 
Mit weiteren Projekten, z.B. den programmatischen Thesen zum Umweltschutz auf dem ganzflächig beschriebenen Logistik-Tor von Angela Bulloch oder den Skulpturen, die der amerikanische Bildhauer John Ahearn vier Wochen lang von ehemaligen Kokerei-Arbeitern abgießt, wird das neue Team seinem Anspruch gerecht, mit dem Standort und seiner Bevölkerung in Kontakt zu treten, die Entwicklungen der sozialen Wirklichkeit aufzugreifen und sich implizit den Mechanismen des instiutionalisierten Kunstbetriebs zu entziehen. Bereits der Titel "Arbeit Essen Angst" konfrontiert mit Inhalten, die konkret auf die lokalen Gegebenheiten, auf die Sozial- und Industriegeschichte eingehen. Diesen Anspruch verfolgen auch die an dem Projekt beteiligten Künstlerinnen und Künstler wie Valie Export, Tobias Rehberger, Dan Peterman, Maria Eichhorn, Andreas Slominski oder Hans-Peter Feldmann, um nur einige zu nennen. Sie beschäftigen sich in ihrer Arbeit mit dem jeweiligen Ort sowie dem Kontext und hinterfragen die gesellschaftlichen Bedingungen. ...

Weltzentrum Kabakov 
Die zweite Säule, auf der die Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur den "Zukunftsstandort Zollverein" zu einer Stätte für Gegenwartskunst ausbaut, ist das "Weltzentrum Kabakov". Im ehemaligen Salzlager auf der "weißen Seite" der Kokerei, wo die bei der Koksproduktion anfallenden Nebenprodukte weiterverarbeitet wurden, und das Gas für die umliegenden Haushalte gereinigt wurde, hat die raumsprengende Skulptur "The Palace of Projects" von Ilya/Emilia Kabakov im Juni ihre feste Heimstätte bezogen. Die aus vielen hundert Einzelteilen zusammengesetzte "totale Installation" in Form einer riesigen begehbaren Schnecke hat Kabakov zwischen 1995 und 1998 geschaffen; bisher war sie in New York, Madrid und London zu sehen. Nach den Plänen des Essener Architekten Heinrich Böll ist dafür die 1500 Quadratmeter große Salzlagerhalle zu einer Ausstellungshalle umgebaut und an ihren Längsseiten um zwei asymmetrische Anbauten so erweitert worden, dass dieses in seinen Ausmaßen ausladende Gesamtkunstwerk auf dem Industriekomplex untergebracht werden konnte. Zusätzlich hat Böll in den hölzernen Giebel des Satteldachs einen Steg eingezogen. Von hier aus gewinnt der Besucher nun eine zusätzliche Perspektive auf die aus 65 Erinnerungsräumen bestehende Installation und erlebt nebenbei den eindrucksvollen, weiten Innenraum, der nahzu unverändert erhalten geblieben ist. Einen weiteren Werkkomplex des 68jährigen Künstlers beherbergt das benachbarte Magazingebäude: das weltweit einzigartige Archiv, das sämtliche zeichnerischen und druckgrafischen Arbeiten Kabakovs enthält. Die Kosten für beide Kabakov-Projekte belaufen sich auf insgesamt neun Millionen Mark. Das Land Nordrhein-Westfalen will davon 90 Prozent übernehmen, die Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur die restlichen 10 Prozent. Anfang Mai hat außerdem die Landesstiftung für Kunst und Kultur ihre Beteiligung an dem Ankauf des Kunstwerks mit 600.000 DM zugesagt. Den dauerhaften Betrieb sollen zukünftig aber auch Essener Unternehmen unterstützen. Und die könnten sich die Worte von Dr. Michael Vesper, Minister für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport des Landes NRW, durchaus zu Herzen nehmen. Denn, was Vesper bei der Eröffnung als "große Chance für den Standort Zollverein, die Stadt Essen und das Land NRW" bezeichnete, hat nicht nur Gewicht. 
Der 1933 in der Ukraine geborene Künstler Ilya Kabakov ist einer der bedeutendsten Künstler der Gegenwart, ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen. 1993 hat er den Max Beckmann-Preis der Stadt Frankfurt am Main sowie den Baseler Joseph Beuys-Preis erhalten, 1998 den "Kaiserring" der Stadt Goslar u.a.m. Nachdem Kabakov in den 70er Jahren zu einem der führenden Köpfe des Moskauer Konzeptualismus avancierte, ist er seit den 80er Jahren jenseits des Eisernen Vorhangs mit begehbaren Rauminstallationen bekannt geworden. Teils dokumentarisch, teils verträumt und poetisch, reproduziert er darin beispielsweise lebensweltliche Elemente der damaligen Sowjetunion - meistens eins zu eins präsentiert wie in der 1992 auf der Documenta XI in Kassel gezeigten Installation "The Toilet". 
In dem 65 Erinnerungsräume entwerfenden Werk auf der Essener Kokerei wandelt der Besucher zwischen Spiegelbildern eines labyrinthisch angelegten Weltbildes. Angefüllt mit Träumen und Erinnerungen, die mal fiktiv, mal autobiographisch sind, läßt Kabakov die technischen und sozialen Utopien des vergangenen Jahrhunderts vor dem Besucher Revue passieren. In der Fülle der sich selbst ad absurdum führenden Welterklärungen eröffnet die Installation dem Betrachter einen schier unerschöpflichen Fundus an Vorstellungen, die die Welt in ihrer Widersprüchlichkeit reflektieren. Kein Wunder also, dass Dr. Uwe Rüth, Direktor des Marler Skulpturenmuseums Glaskasten und Mitglied im künstlerischen Beirat der Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur, "The Palace of Projects" als "eine der wesentlichen Arbeiten des 20. Jahrhunderts" bezeichnet.